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Totale Fiktion - Ein Gespräch im Centre Pompidou (Paris)

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21. März 2004

Unter dem Thema ‚Totale Fiktion’ organisiert das Centre Pompidou die Begegnung dreier Menschen: Eric Viennot, Olga Kisseleva und Michael Stora.

Olga Kisseleva
, gebürtige Petersburgerin, ist eine der Künstlerinnen im Bereich digitale Kunst, die vor ihrer künstlerischen Laufbahn ihre wissenschaftliche Qualifikation unter Beweis stellt: nach ihrem Studium in St. Petersburg arbeitet sie in der Entwicklung digitaler Technologien an den Universitäten in New York und Kalifornien und promoviert über ‚Neue Formen der Hybridation’. Anschließend tritt sie dem ‚Institut des Hautes Etudes en Art Plastique’ in Paris bei. Seitdem arbeitet sie künstlerisch an der Grenze zwischen ‚wahr’ und ‚falsch’, ‚real’ und ‚virtuell’. Zur Zeit (bis zum 24. April 2004) stellt sie in Brest (Frankreich) im ‚Centre d’Art Passerelle’ aus. ‚Navigation aux Instruments’ (Autopilot) hat sie ihre Exposition genannt.

Michael Stora
ist klinischer Psychologe, Psychoanalytiker und Vorstand des ‚Observatoire des Mondes Numériques en Sciences Humaines’. (Observatorium digitaler Welten in den Humanwissenschaften)

Eric Viennot lernen wir als Konzeptor des Abenteuerspiels ‚In Memoriam’ und als Mitbegründer und Creativ Director der ‚Lexis Numérique’ kennen.

Das Bindeglied, was das Centre Pompidou zur Einladung unserer drei Gäste veranlasste, ist ihr Interesse und ihre Arbeit an der Thematik real/virtuell und ihr Versuch der Grenzüberschreitung dieser Dualität im Zusammenhang mit Videospielen.

Eric Viennot beginnt den Abend: „In Memoriam ist ein Abenteuerspiel für Menschen ab 16 Jahren, welches sich am Genre des Thrillers bzw. des Polars orientiert. Es wird – und das ist eine seiner Besonderheiten – auf CD und im Internet gespielt und hat, im Gegensatz zu den meisten Videospielen, keinen Simulationscharakter. Wenn auch reine Fiktion, so wurde doch ein großer Realismus angestrebt. Inhaltlich geht es um das Verschwinden des Journalisten Jack Korski, welcher Nachforschungen über einen Serial Killer anstellt, und seiner Partnerin.
Einige Wochen nach dem Verschwinden des Paares erreicht die Agentur www.skl-networks.com, bei der der Journalist arbeitet, eine CD, auf der sich ein morbides Spiel befindet. Die Agentur beschließt, die CD zu veröffentlichen, um die Chancen zu erhöhen ihren Mitarbeiter und seine Partnerin aufzufinden. An diesem Punkt setzt 'In Memoriam' an: der Spieler wird auf der CD mit seltsamen Rätseln konfrontiert, welche er unter anderem durch Nachforschungen im Internet zu lösen aufgefordert ist. Ausschnitte eines filmischen Tagebuches von Jack Lorski ermöglichen, die Untersuchungen, die der Journalist in Europa geführt hat, nachzuvollziehen.

"Während man in klassischen Videospielen in eine Rolle schlüpft, so ist in 'In Memoriam' der Spieler in das Spiel integriert. Um die Fiktion und damit das Spiel möglichst glaubhaft zu gestalten, wurden erhebliche Mittel eingesetzt: dem Spieler werden Emails geschickt, welche ihn mit Hinweisen auf seiner Suche weiterführen. Die Suche im Internet stützt sich auf 350 Websites, die zum Teil von uns erstellt wurden. Eine der gewagtesten Schritte der Realitätsannäherung ist wohl unsere Zusammenarbeit mit der (französischen linken) Tageszeitung Libération. Als ich dem Chefredakteur von Libération zum ersten Mal den Vorschlag unterbreitete, auf ihrer Website fiktive Artikel über das Verschwinden des (nicht existierenden) Journalisten Lorski zu veröffentlichen, stieß ich erwartungsgemäß auf Ablehnung. Eine Zeitung, deren Aufgabe es ist über die Realität zu schreiben, wird nicht ihre Glaubwürdigkeit durch Veröffentlichung von Fiktion riskieren wollen, noch dazu, wenn verheimlicht wird, dass es sich bei der Fiktion um Fiktion handelt. Doch nach längeren Diskussionen konnten wir uns auf Bedingungen einigen, unter denen für Libération die Veröffentlichung fiktiver Artikel auf ihrer Website akzeptabel ist: einzig bei der Suche auf der Website von Libération dürfen die Artikel über den Journalisten Korski zu finden sein, eine Referenzierung der Artikel in öffentlichen Suchmaschinen wie Google, Altavista o.ä. müsse verhindert werden. Diese Bedingung ist absolut nachvollziehbar, denn sie macht es unmöglich, dass ein Surfer, der nicht am Spiel In Memoriam teilnimmt, durch Zufall auf einen dieser ‚falschen’ Artikel stößt und damit Libération die Verbreitung von falschen Informationen vorwerfen könnte.
Diese Zusammenarbeit ist für uns wie für Libération interessant: der Tageszeitung wird es Traffic bringen, In Memoriam profitiert von einem Realitätskick.“

Schmunzelnd erzählt Viennot, dass mittlerweile die In Memoriam-Artikel auf der Libération-Site zum Teil mehr Traffic erzeugen als die Artikel des Tagesgeschehens selbst, und lässt eine weitere Anekdote folgen: eine der Webseiten von In Memoriam erhielt eine Anfrage per mail von einer eifersüchtigen Italienerin, die kurz vor ihrer Heirat stand. Sie wollte wissen, in welchem Verhältnis ihr Gefährte zu der Frau stand, von der er mehrere Mails bekommen hatte. Diese ‚Frau’ war eine der in unseren Seiten eingebauten mails mit Hinweisen, die an die Spieler versandt werden. „Wir haben uns bemüht, die Italienerin zu überzeugen, dass es ihre 'Rivalin' nicht gibt. Hoffen wir, dass sie noch geheiratet haben“, grinst Eric Viennot. Das Eindringen in die Realität und die Privatsphäre des Spielers ist erheblich. Man kommt von der Arbeit und findet in seiner Mailbox eine Nachricht vor, die zu Nachforschungen im Internet auffordert.
„Das Spiel ist so konzipiert, dass ein erfahrener Spieler etwa 20 Stunden benötigt, um die Aufgabe zu lösen. Bemerkenswert ist die Resonanz im Internet auf unser Produkt – virtuelle Communities, Fanclubs, Foren und private Websites ermöglichen den Internauten, sich über In Memoriam auszutauschen. Von der Fachpresse werden wir erst seit kurzem wahrgenommen, und zu unserer Freude sehr positiv.“

Olga Kisseleva setzt den Abend fort, indem sie über ihre Ausstellung in Brest spricht.
‚Navigation aux Instruments’ bietet einen Parcours, bei dessen Begehen der Besucher ein Teil eines 3-dimensionalen Videospieles wird. Eine Lagerhalle aus den fünfziger Jahren zur Aufbewahrung von Früchten kontrastiert mit Lichteffekten. Aus dem Parcours entwickelt sich ein Labyrinth, das Fortschreiten des Besuchers löst Klang- und Lichtreaktionen aus, sekundenweise erscheinen Bilder auf Bildschirmen, sobald der Besucher sich ihnen nähert. Alle Bilder beziehen sich auf genau ein aktuelles Ereignis, über welches verschiedene Medien berichtet haben, vertreten jedoch verschiedene oder entgegengesetzte Standpunkte.

„Es gibt viele Situationen, in denen der Mensch sein Leben den Aussagen von Instrumenten anvertraut. Warum sollte er nicht selbst zum Teil eines Instrumentes werden?“ fragt Olga Kisseleva.
„In der ‚Digi-Cabane’ (digitale Hütte) sitzend kann der Besucher seine Umgebung durch Kommandos beeinflussen und ein Videospiel spielen. Wenn er auf brutale Weise spielt, werden seitlich und oberhalb des Sitzes durchsichtige Plastikkissen aufgeblasen, die den Spieler bedrängen und seine Bewegungsfreiheit einschränken. Bei extrem brutaler Spielweise wird der Spieler wie auf einem Schleudersitz aus der Digi-Cabane hinauskatapultiert.“ (Gelächter im Publikum)

Bei In Memoriam drängt sich die Virtualität in die Realität, während bei Digi-Cabane die Richtung zum Teil umgedreht wird, oder sich Virtualität und Realität gegenseitig durchdringen, die Spielerfahrung ist 3-dimensional, visuelle, auditive und taktile Sinne werden stimuliert.

Die Intervention von Michael Stora nimmt weniger Zeit in Anspruch. Nichtsdestoweniger überrascht er durch seine unvoreingenommene bzw. positive Haltung gegenüber Videospielen: wo herkömmliche Medien mit einer negativen Grundeinstellung gegenüber dieser Art von digitaler Freizeitbeschäftigung nicht hinter dem Berg halten, entdeckt der Psychologe neue Möglichkeiten bei der Behandlung von jungen autistischen und psychotischen Patienten. Auch schüchterne Jugendliche können vom Videospiel profitieren.
„Mir ist aufgefallen, dass Kinder oft besser mit Computern als mit Menschen kommunizieren“, sagt Michael Stora. „Im Videospiel kann man Regression erleben, ‚so tun als ob’ und Grenzen überschreiten, welche man in der Realität nie überschreiten würde.“
Fragestellungen dieser Art haben den Psychologen veranlasst, einen Verein zu gründen, in dem Spezialisten verschiedener psychologischer Strömungen durch Hinzunahme von Videospielen ihr Behandlungsrepertoire erweitern.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, aber einige Fragen aus dem Publikum können noch beantwortet werden.

Seien extrem gewalttätige oder sexuell anstößige Szenen der Grund für die Zulassung von In Memoriam erst ab 16 Jahren?
Eric Viennot verneint: „keine solcher Szenen findet man dort vor. Wir sind davon ausgegangen, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu stark verschwimmen, als dass ein Jugendlicher unter 16 Jahren die Situation eindeutig einschätzen kann. (Beispiel: die eifersüchtige italienische Ehefrau, welche kein isolierter Fall ist).“

Ein Zuhörer unterstellt Olga Kisseleva eine negative Einstellung gegenüber Videospielen. Die Künstlerin wehrt ab. Sie habe in ihren Installationen bewusst den Videospielcharakter übertrieben, woraus man aber nicht auf eine negative Grundhaltung gegenüber dieser Spielart schließen könne. Sie wolle die Aufmerksamkeit auf bestimmte Punkte lenken, eine Meinung soll sich der Besucher selbst bilden.

Ob sich unsere Gäste vorstellen könnten, in einem Projekt zusammenzuarbeiten, und wenn ja, wie sähe so ein Projekt aus, lautet die nächste Frage.
Wir erfahren, dass Eric Viennot dem Psychologen in der Konzeptionsphase von 'In Memoriam' einen Job angeboten hatte. Treffer.

Ein herzlicher Applaus beendet den Abend. Am Ausgang hinterlasse ich meine Email, um über ähnliche Veranstaltungen informiert zu werden.
Stephan Meinhardt